Fundamentalismen und Modernen Von Prof. Dr. Dr. Heinrich Schäfer Vortrag auf der Tagung "Fundamentalismus-Alarm. Neue religionspolitische Strategien in Zeiten der Rückkehr von Religion", Evangelische Akademie Loccum, 5. - 7.5. 2006. Der Autor ist Soziologe und Theologe und lehrt an der Universität Bielefeld. Erste Angriffe islamisch-fundamentalistischer Gruppen stören seit 2001(1) die Ruhe der westlichen Hemisphäre und lassen das öffentliche Interesse(2) am Fundamentalismus auch in Europa steigen. Folgende Fragen scheinen besonders wichtig genommen zu werden: Ist Fundamentalismus Teil eines globalen "Zusammenpralls der Kulturen" (Samuel Huntington), eines Kampfes zwischen "McWorld und Jihad" (Benjamin Barber)? Was macht eigentlich die westliche Moderne aus? Welche Bedeutung hat dabei die Religion, wo doch vor kurzem noch um ökonomische und politische Interessen gestritten wurde? Und schließlich: Welche Kriterien erlauben es, eine soziale Bewegung als "fundamentalistisch" zu bezeichnen?
1. Zur Einleitung1.1 ThesenMein Kurzvortrag wird auf folgende Antworten hinauslaufen:
Fundamentalismen reagieren auf Spannungen in und zwischen sehr unterschiedlichen "Modernen" und dienen der Positionsverbesserung von modernisierenden Zwischenschichten.
Was wir aufgrund der aktuellen Konflikte als die westliche Moderne wahrnehmen, organisiert sich um die Spannung zwischen instrumentell-technischer und reflexiv-hermeneutischer Moderne. Fundamentalisten sind dabei instrumentell orientiert, und instrumentelle Moderne neigt ihrerseits zum Fundamentalismus.
Religion wird im politischen Feld deshalb wichtig, weil Fundamentalismen Interessenkonflikte in Identitätskonflikte transformieren.
"Fundamentalistisch" sind solche sozialen Bewegungen, die an der grundlegenden Politisierung(3) der Moderne teilhaben, dabei eigene - oft aus der Tradition entlehnte - religiöse Vorstellungen absolut setzen und dies mit einer Machtstrategie zur Kontrolle des jeweils nächst höheren für sie relevanten Machtzentrums verbinden. Ob diese Strategie gewaltsam ist oder nicht, spielt dabei für den Fundamentalismus-Begriff keine Rolle.
Wenn ich das sage, gehe ich von folgenden theoretischen Prämissen aus.
1.2 Theoretische PrämissenFundamentalisten sind auch Menschen. Das heißt unter anderem, sie leiden unter bestimmten Lebensumständen, haben Bedürfnisse, verfolgen Interessen, schließen sich zusammen, haben Gemeinsamkeiten mit Diesen und Differenzen mit Jenen. Ich trage dieser trivialen Tatsache durch folgende methodische Entscheidungen Rechnung.
Erstens behandle ich Fundamentalismen als soziale Bewegungen, die auf Krisenerfahrungen reagieren, indem sie bestimmte kollektive Identitäten herausbilden.
Zweitens ist für die Krisenerfahrungen bedeutsam, in welcher Weise soziale Ungleichheit wahrgenommen wird. Besonders mobilisierend für fundamentalistische Gruppen ist die Wahrnehmung, um die eigenen Aufstiegserwartungen gebracht zu werden; anders gesagt: relative Deprivation in der Zeiterfahrung.
Drittens verstehe ich "Moderne" bzw. "Modernisierung" als Sammelbegriff für kulturelle Prozesse der "Fundamentalpolitisierung" (Senghaas).(4) Lebenswege, religiöse Orientierungen, ökonomische Chancen usw. - alles wird zum Gegenstand des privaten und öffentlichen Aushandelns. Dieser Prozess ereignet sich in unterschiedliche Kulturen allerdings auf eine unterschiedliche Weise.
Viertens rede ich in globaler Hinsicht (mit Eisenstadt) folglich von "vielfältigen Modernen": europäische, islamische, US-amerikanische, lateinamerikanische etc. Spannungen herrschen sowohl zwischen als auch innerhalb der unterschiedlichen Modernen. In der europäischen Moderne dürfte die stärkste Spannung zwischen instrumentell-technokratischer und hermeneutisch-reflexiver Vernunft liegen.
Theorie-Liebhaber haben es bereits bemerkt: Ich setze bei einer akteurzentrierten - aber nicht individualistischen - Soziologie á la Bourdieu an, orientiere mich an der New Social Movement-Theorie (ohne allerdings den Strategie-Aspekt der Ressource Mobilization Theoriy aus dem Auge zu verlieren) und würdige den globalen Modernisierungsprozess aus der Perspektive Shmuel Eisenstadts.
Leider ist es in einem solch kurzen Beitrag nicht möglich, die hervorragende Forschung Anderer zu würdigen.(5)
1.3 VorgehenIch konzentriere mich hier auf soziologische Aspekte des Fundamentalismus-Problems - wenngleich auch zu theologischen Aspekten Manches zu sagen wäre, wie etwa zum Zeit-Management des Millenarismus, dem Raum-Management fundamentalistischer Geistlehre usw.
Meine weiteren Überlegungen sind wie folgt aufgebaut: Zunächst werde ich knapp einen Fall von Fundamentalismus in der lateinamerikanischen Moderne untersuchen. Hier habe ich lange Jahre selbst empirische Forschung zum Thema betrieben. Aus einer Teilstudie werde ich einige Kriterien für das Urteil "Fundamentalismus" formulieren. Dann werde ich vergleichend Fundamentalismen in unterschiedlichen Modernen skizzieren. Und abschließend werde ich die globalen Spannungen eingehen.
2. Lateinamerika: Fundamentlismen und Moderne in GuatemalaIm zwanzigsten Jahrhundert hat die lateinamerikanische Modernisierung spezifische soziale Konflikte herausgebildet. Für die Rolle des religiösen Fundamentalismus in diesen Spannungen ist Guatemala das beste Beispiel. In einer heißen Konfliktphase - Mitte der achtziger Jahre - zeigte sich folgendes Bild.(6)
Ich konstruiere den gesellschaftlichen Raum über zwei Achsen: den Gegensatz zwischen reich und arm (bezogen auf das Gesamt-Kapitalvolumen der Akteure) und den zwischen traditionell und modern (bezogen auf das für eine Positionsverbesserung verwertbare kulturelle Kapital: Wissen, Fähigkeiten, Titel etc.).
Es lassen sich folgende religiöse Habitusformationen unterscheiden:
Oben im gesellschaftlichen Raum und auf der modernisierenden Seite ist der Habitus auf Machtzueignung durch den Heiligen Geist zentriert: die sog. Neo-Pfingstler bei technologisch-kapitalintensiv orientierten Unternehmern, gehobenen Freiberuflern und Managern.
Unten auf der traditionalen Seite erwarten Gemeinden klassischer Pfingstkirchen die endzeitliche Entrückung der Kirche in den Himmel; es sind Kleinbauern, Gelegenheitsarbeiter, Kleinsthändler.
Im unteren modernisierenden Bereich - Industriearbeiter, Saisonarbeiter, Lehrer - orientieren sich kleine unabhängige Pfingstgruppen an der Sprachengabe des Geistes als einer Form symbolischen Protests.
Im sozialen Mittelfeld, eher auf der traditionalen Seite - also Handwerker, Händler, Mittelbauern, exekutives Kleinbürgertum wie Beamte, Lehrer, Pastoren und Kirchenfunktionäre - lassen sich zwei Habitusformationen ausmachen. Religiös aufsteigend: städtische traditionelle Pfingstgemeinden, zentriert auf disziplinierende Heiligkeit bzw. Reinheit; und religiös stagnierend: evangelikale Gemeinden, deren Habitus sich über die Unfehlbarkeit der Schrift organisiert.
Zwischen diesen Positionen lässt sich ein Feld - ein "Sozialmilieu" (Riesebrodt), wenn man so will - ausmachen, auf welches die im Folgenden zu entwickelnden Kriterien für Fundamentalismus zutreffen.
Simpler kann man den Raum nicht konstruieren, denn sonst würde man die spezifischen Krisenerfahrungen der Akteure außer Acht lassen. Im Blick auf unsere Frage nach klaren Kriterien für "Fundamentalismus" greife ich zwei Formationen heraus.
1. Die machtorientierten Neopfingstler sehen ihren Aufstieg und die Modernisierung durch einen Angriff des Kommunismus (die Guerilla, "von unten") und den Machtblock einer korrupten Oligarchie ("von oben") gefährdet. Beides identifizieren sie als Werk von Dämonen und setzen die absolute Macht, die ihnen vom Heiligen Geist verliehen wird, dagegen. Diese Macht spielen sie auf allen gesellschaftlichen Feldern in der sog. "geistlichen Kriegsführung" aus, bis hin zur Legitimation von Napalm-Angriffen auf indianische Dörfer. Diese Habitusformation setzt ihre religiöse Position absolut und entwickelt eine offensive Strategie zur Kontrolle des gesellschaftlichen Zentrums. Max Weber abwandelnd kann man von einer Charismatik der Welteroberung sprechen.
2. An der Entrückung der Kirche in den Himmel orientieren sich Pfingstgemeinden, deren Mitglieder unter dem Druck der Wirtschaftskrise, der Modernisierung und der Repression keine gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten mehr sehen. Die Misere wird - prämillenaristisch - als notwendige Verschlechterung der Dinge am Ende der Zeiten verstanden. Das absolut gesetzte Vertrauen auf die Entrückung der Kirche ermöglicht den Rückzug in die Gemeinden und den Aufbau interner Solidarität unter extremer Abschottung von der sog. "Welt". Hier kann man von einer Apokalyptik der Weltflucht sprechen.
Erstere sind nach meinem Verständnis fundamentalistisch, Letztere nicht.
Fundamentalistische Praxis unter den Bedingungen lateinamerikanischer Moderne lässt sich ganz knapp wie folgt skizzieren. Die gesellschaftlich wirksamste Spannung wird erzeugt durch den "klassischen" sozio-ökonomischen Interessenkonflikt um die interne Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die im Blick auf Fundamentalismus relevanteste gesellschaftliche Position ist die modernisierende Position der Oberschicht und oberen Mittelschicht. Diese begreift den Interessenkonflikt als Gegensatz zwischen Tradition und Moderne und kämpft gegen zwei Gegner: die traditionelle Oligarchie sowie die Aufständischen aus den modernisierenden Positionen im unteren und niedrigen mittleren Bereich. Die politische Diskursart des gesellschaftlichen Konfliktes ist allerdings vorwiegend säkular(7). Außenbeziehungen (im Rahmen des Ost-West-Konflikts) sind nur in zweiter Linie relevant.
Der neopfingstliche Fundamentalismus transformiert - unter den extremen Krisenerfahrungen des Guerriakrieges und wirtschaftlicher Rezession - den sozio-ökonomischen Interessenkonflikt in einen Konflikt um Identitäten: die eigene "protestantisch-kapitalistische" gegenüber zwei anderen: der atheistisch-kommunistischen der Aufständischen und der hispanisch-traditionellen der alten Oligarchie. Er setzt die eigene Position mittels der Gegenwart des Heiligen Geistes absolut und dämonisiert und bekämpft die Gegner (spiritual warfare). Zeitweise wird sogar ein theokratisches Herrschaftsmodell favorisiert. Die gesellschaftliche Zwischenposition ermöglicht es ihm gleichwohl, durch einen Diskurs "sozialer Verantwortung" untere Schichten zu kooptieren.